Vor genau 47 Jahren, am 1. November 1977, wurde am Observatorium in Pasadena (USA) von Charles T. Kowal ein neuer astrologischer Faktor entdeckt: Chiron. Die Deutung eines astrologischen Faktors steht nicht von Anfang an fest, sondern ist vielmehr eine Art des Erprobens.
Die Klassische Astrologie hat uns dabei einiges voraus, wird sie doch schon seit vielen Jahrhunderten betrieben, sodass sie mittlerweile zu weitestgehend abgeschlossenen Planetendeutungen gelangt ist. Sie wurde erst wieder durch die Psychologische Astrologie herausgefordert. Diese hat dann zu neuen Impulsen in der Deutung der Planeten geführt.
Bei den jüngeren Faktoren Deutung bildet sich eine Deutung erst heraus. Sie wird erarbeitet, Astrologen tasten sich vorsichtig an sie heran. Es ist ein Prozess, der mehrere Jahrzehnte oder sogar noch wesentlich länger dauert und niemals abgeschlossen ist. Er bleibt eine „work in progress“, bis wir ein befriedigendes Zwischenergebnis erreicht haben und dieses dann durch eine erneute Auseinandersetzung und veränderte Erkenntnisse wiederum infrage gestellt wird.
Und doch ist nach fast 50 Jahren die große Unsicherheit im astrologischen Umgang mit Chiron heute vorbei. Wir sind seiner Deutung auf vielen Ebenen näher gekommen:
Mundan
Auf der mundanen Ebene macht Chiron uns auf etwas aufmerksam, und wir finden als Astrologen eine Deutung. Bis 1977 kannte die Astronomie Chiron nicht. Seine Entdeckung wird mit Durchbrüchen in der Medizin und der Physik in Zusammenhang gebracht. Ein verstärktes Interesse für die Psychotherapie gehört auch mit in diesen Zusammenhang. Hier wird Chirons Thema der Heilung deutlich. Man versucht zu heilen, indem man seelische Wunden aufdeckt. Auch die Astrologie heilt durch die Sichtbarmachung der Wunden im individuellen Horoskop: Interessanterweise war Chiron in der antiken Mythologie auch Astrologie-Lehrer. Die Hinwendung zu einer psychologischen Astrologie ist ein maßgeblicher Meilenstein für die Entwicklung und Stärke der Disziplin. Mehr denn je ist Wissen auch Macht und dessen Vermittlung durch das Internet erheblich leichter geworden.
Kollektiv
Auf einer kollektiven Ebene werden wir seit dem Ende der 1970er Jahre unserer Verletzungen zunehmend gewahr. Der Planet Erde ist verletzt und in Gefahr. Unser Glaube an die Allmacht und den grenzenlosen Gestaltungswillen des Menschen erlebt ihre tiefste Krise im globalen Umweltdesaster, dessen Folgen uns wütend machen: Wie konnten wir nur? Doch die Schuld ist kollektiv. Alle haben mitgemacht, die Sündenböcke sind rar geworden und systemisch, denn am hemmungslosen Wachstumsglauben waren fast alle beteiligt.
Und immer noch geht es weiter. Wir sind nicht in der Lage, uns zu einigen, um uns kollektiv zu retten. Das Chiron-Thema kennzeichnet den Preis, den wir dafür zahlen, dass wir uns für unsterblich und allmächtig halten und glauben, uns selbst und die Welt vollständig im Griff zu haben. Der Weg aus dieser Krise, die wir vielleicht als moralische Depression empfinden, ist noch lang, und er hat mit der Entdeckung Chirons und dem Aufkommen der Umweltbewegung seinen Anfang genommen.
Mythologisch
Die antike Mythologie stellt Chiron als einen verwundeten Heiler mit einem menschlichen Oberkörper und dem Unterleib eines Pferdes dar, einen sogenannten Kentaur. Sein Vater ist Saturn, der ihn bei einem Seitensprung mit Philyra zeugte, wobei ihn seine Gemahlin Rhea störte und er als Hengst verkleidet mit Philyra floh, wodurch die Kentaurengestalt seines Sohnes Chirons entstand.
Interessanterweise weist uns die Mythologie einen ersten Weg zur Deutung Chirons, wurde dieser doch nach seiner Geburt von der Mutter abgewiesen, die sich von ihren Pflichten entband, indem sie sich vor lauter Scham in einen Zitronenbaum verwandeln ließ. Chirons erste Verletzung, die Zurückweisung durch seine Mutter, kennzeichnet den Lebensbereich, in dem wir jeder Zurückweisung gegenüber ganz besonders empfindlich sind. Chiron hat den schützenden Mutterleib verlassen und fühlt sich ausgestoßen ‒ gefangen in seinem Körper, halb Mensch, halb Tiergestalt. Chirons Häuserstellung kann uns darauf hinweisen, wo wir uns unserer Körperlichkeit sehr deutlich bewusst werden, sie gegenüber unserer Sehnsucht nach Reinheit und Transzendenz als triebhaft empfinden.
Chiron fiel nach der Zurückweisung durch seine Mutter nicht ins Bodenlose. Die Götter nahmen sich seiner an und erzogen ihn zu großer Weisheit. Seine animalische Seite verlieh ihm einen starken Bezug zu allem Körperlichen: So wurde er ein weiser Heiler menschlichen Leids. Er beschränkte sich in seiner Kunst jedoch nicht nur auf das Heilen, sondern lehrte auch die Kriegskunst und das Jagen. Er wusste, wie man Wunden schlug und diese heilte. Hiermit wird ein zweiter Weg der Deutung klar: Dort, wo Chiron im Horoskop steht, wissen wir vielleicht besonders um unsere eigenen Schwächen, empfinden unsere Wunden als äußerst schmerzhaft. Diese Wahrnehmung befähigt uns aber auch, andere Menschen in diesem Bereich besser zu verstehen und ihnen zu helfen.
Die Kentauren hatten eine entscheidende Schwäche, den Alkohol. Unter seinem Einfluss wurden sie zügel- und maßlos, gar gewalttätig. Bei einem heftigen Trinkgelage mit anderen Kentauren wurde Chiron von Herkules versehentlich mit einem vergifteten Pfeil beschossen. Dieser traf ihn ins Knie und verursachte ihm lebenslange Schmerzen, die nicht zu heilen waren. Wir sprechen gemeinhin von der Ironie des Schicksals. Auf Chiron traf dies tragischerweise zu: Der verwundete Heiler konnte sich selbst nicht retten, er war unheilbar.
Die Stellung Chirons ist oft besonders auffällig in Horoskopen von Menschen mit einer Behinderung: Viele von ihnen finden ihre Erfüllung darin, ein sinnvolles Leben zu führen, indem sie anderen Menschen dienen. Natürlich sollte nicht der weise Chiron getroffen werden. Dennoch büßt er für die Schwäche seiner Art. Ungerecht ist das, da er doch seine eigene Wildheit im Griff hat. Und genauso wird Chiron auch astrologisch häufig empfunden. Wir kämpfen und leiden mehr als diejenigen, die auf den ersten Blick als Unholde erkennbar sind. Unschuldig halten wir für etwas her, was nicht in unserer Verantwortung liegt. Chiron ist dann eine schmerzliche Erfahrung, und man stellt sich die Frage, wofür man bestraft wird. Aber wir sind Teil eines Kollektivs, das immer noch sehr zur Destruktivität neigt, und Chiron macht uns diese Kollektivschuld bewusst.
Astronomisch
Chiron wurde von unserem Sonnensystem eingefangen. Vielleicht ist er ein ausgekühlter Komet, ein Asteroid oder Meteorit. Wie im Mythos ist Chiron ein Einzelgänger und Außenseiter. Er passt nicht in das System der Planetenherrscher, und sogar seine Umlaufbahn ist unregelmäßig. Seine Umlaufzeit beträgt zwischen neunundvierzig und einundfünfzig Jahren, doch es bleibt offen, ob er nur ein zeitweiliger Besucher unseres Sonnensystems ist, und wie lange er wohl bei uns bleiben wird, falls dies zutrifft. Da er erst vor knapp 50 Jahren entdeckt wurde, wissen wir das einfach nicht.
Er widerspricht damit den westlichen Vorstellungen eines harmonischen und geordneten Kosmos: Folgt Gott also keiner Ordnung und ist ungerecht? Sind wissenschaftliche Gesetze von Ursache und Wirkung nicht haltbar? Chiron stellt uns diese Fragen, verhöhnt uns gar mit unserer Meinung von kosmischer Gerechtigkeit, der zufolge alles dem Gesetz der Vernunft unterliegt. Chiron wirft existenzielle Fragen auf, die nicht so ohne Weiteres zu klären sind. Vielleicht ist das Schicksal nicht nach unseren Gesetzen gerecht, sondern nach Chirons ganz eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Was bleibt, ist die natürliche Reaktion des Menschen auf Verletzungen: Wut und Zorn auf das Leben. Tiefer betrachtet, ist dies keine plutonische Wut, sondern ein religiöser Zorn, eine Wut auf die Mächte des Kosmos, die scheinbar doch nur würfeln. Die Verletzungen Saturns sind konkret, wir können jemandem direkt die Schuld daran geben. Die Suche nach dem Verursacher der Verletzungen durch Chiron ist unkonkret. Nur den Göttern lässt sich die Schuld zuschreiben.