Die Antwort auf diese Frage ist nicht eindeutig zu klären. Die Astrologie ist insofern wissenschaftlich, als sich ihre Methodik erlernen lässt und sie über eine klare Terminologie verfügt. Und auch deshalb, weil sie nicht vordergründig auf Intuition und schon gar nicht auf übersinnlichen Fähigkeiten beruht. Zudem weist sie ein systematisches Gefüge auf – ein Horoskop basiert auf exakten und mathematisch komplexen Berechnungen. Aber in Bezug auf ihre Hauptleistung kann die Astrologie nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, da sie ein System von Symbolen deutet. Darin steht sie allen kreativen Disziplinen wesentlich näher als einer exakten Wissenschaft. Vielmehr ist die Deutung eines Horoskops eher eine Kunst. Hierfür reichen geistig-rationale Fähigkeiten nicht aus. Warum ist das so? Das liegt an dem, was es zu interpretieren gilt: den Symbolen.
Astrologie geht von dem Grundgedanken aus, dass ein Zusammenhang zwischen Kosmos und Mensch besteht. Das lässt sich (bisher) wissenschaftlich nicht beweisen. Doch darf man ihr deshalb jegliche Wissenschaftlichkeit absprechen? Nein! Auch in anderen Wissenschaften gibt es solche Prämissen. Die strengste aller Wissenschaften, die Physik, setzt die mathematische Beschreibbarkeit der Welt voraus. Ohne diese Voraussetzung wäre die moderne Physik nicht denkbar. Dass eine Disziplin wie die Astrologie mit Voraussetzungen arbeitet, die sie nicht beweisen kann, wäre für sich allein also kein Argument, sie als unwissenschaftlich zu bezeichnen.
Dennoch kann die Astrologie nicht als rein wissenschaftlich bezeichnet werden, da sich ihr Instrumentarium, die Symbole, gängigen wissenschaftlichen Kriterien entzieht. Ein Symbol beinhaltet drei wichtige Eigenschaften:
1. Ein Symbol verfügt immer über einen Bedeutungsüberschuss.
Wir können nicht alle Bedeutungen eines Symbols aufzählen, weil ein Symbol über eine außerordentlich große Anzahl von Bedeutungen verfügt. Für den Mond etwa kann ich leicht 30 Deutungen aufzählen. Versuchen sich viele Menschen an der Interpretation, kommen vermutlich noch wesentlich mehr Deutungen zusammen. Manchmal reicht es aber auch, wenn man ein Symbol auf nur eine Eigenschaft beschränkt, auf eine, die für mich seelisch und emotional wichtig ist. Was ist nun typisch für ein Symbol? Die Enge oder die Weite seiner Deutung? Die Antwort lautet: beides. Ein Symbol wird sowohl durch die knappe als auch durch die ausführliche Form seiner Deutung gekennzeichnet. Dabei ist die bündige, die knappe Form der Deutung als eine Art Passwort zu lesen: Es öffnet einem die Pforte zu einer Welt der vielschichtigen Bilder.
Ein Symbol verfügt immer über einen Bedeutungsüberschuss
Hier ist das Symbol (S) als Kreis eingezeichnet. Einige Pfeile um ihn herum stellen Bedeutungen dar, die von ihm ausgehen. Man kann sich über eine überschaubare Anzahl einigen (Kreis links) oder auch ins Detail gehen und viele nennen (Kreis rechts). Letztlich wird man niemals erschöpfend alle Bedeutungen aufzählen können. Damit zeichnet siche in Symbol durch seinen Bedeutungsüberschuss aus.
Beispiel: Es lässt sich nicht beantworten, wie viele Bedeutungen der Planet Mars in der Deutung eines Horoskops haben könnte, es könnten 8 Eigenschaften genannt werden, aber auch ebenso unendlich viele.
2. Symbole zeichnen sich durch Schlüssigkeit (Stringenz) aus.
Ich kann viele Bedeutungen für den Mond finden. Aber wenn ich behaupten würde, der Mond zeige, wie ich mich am besten durchsetze, dann hätte ich den Mond mit dem Mars-Prinzip verwechselt. Ein Symbol ist ganz und gar nicht beliebig. Im Gegenteil, es ist stringent. Es präsentiert sich schlüssig, logisch und konsequent. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Astrologie nicht vermittelbar.
Deutungsfehler lassen sich beweisen und korrigieren. Wenn eine Eigenschaft eines Symbols zutreffend charakterisiert wird, spüren die Lernenden dies. Es wird ruhig im Unterrichtsraum; man diskutiert nicht mehr. Das Gesagte ist für alle Anwesenden logisch nachvollziehbar. Ein astrologisches Symbol ist also in sich kohärent. Diese beiden Eigenschaften – Reichtum an Bedeutungen und Stringenz in der Anwendung – üben eine starke Faszination aus, und zwar deshalb, weil man es mit alten Weisheiten zu tun hat. Sie sind stimmig, erhaben und souverän: Sie befriedigen Geist und Herz, sie geben unserem Leben einen Sinn.
Symbole sind nicht schwierig zu verstehen, führen uns aber in eindringliche seelische Tiefen und zeichnen sich durch psychologische Präzision aus. Die Bilderwelt der Astrologie ist eine Wohltat für die Seele. Ich gehe so weit zu behaupten, dass sie sogar heilbringend ist, denn sie bettet den Menschen – anders als die Wissenschaft es tut ‒ in seine natürliche kosmische Umgebung ein.
Symbole zeichnen sich durch Schlüssigkeit (Stringenz) aus
Hier sind drei Symbole (S1, S2 und S3) dargestellt. Die Pfeile um sie herum stellen ihre Bedeutungen dar. Manche Pfeile (Bedeutungen) der drei Symbole kommen sich nahe. Doch dringen sie nicht ineinander. Eine Grenze trennt ihre jeweilige Bedeutungszugehörigkeit. Es heißt, ihre jeweilige Bedeutung ist niemals über die Grenze hinaus austauschbar. Damit erfüllen sie das Kriterium der Stringenz.
Beispiel: Die Deutung des Tierkreiszeichens Krebs und Mond kommen sich nahe. Doch erfüllt das Symbol Krebs niemals die Mond-Funktion im Horoskop, was auch umgekehrt gilt.
Symbole und ihre Systematik sind unsere Arbeitsinstrumente. Die eigentliche Leistung der Astrologie besteht in der Deutung. Ein guter Astrologe stellt sich ganz in den Dienst des Fragenden. Das gelingt ihm aber nur, wenn er sich gefühlsmäßig mit dem Horoskop des Fragenden verbindet. An dieser Stelle wird vom Astrologen ähnlich einem Therapeuten die Fähigkeit zur Empathie verlangt. Er muss mit ganzem Herzen dabei sein. Erst dann wird die Deutung zur Kunst. Was nicht nur darin begründet liegt, dass Emotionen und Gefühle hierbei eine wesentliche Rolle spielen, sondern weil Symbole noch über eine zusätzliche Eigenschaft verfügen.
3. Symbole treten paarweise in polarer Beziehung auf.
Was weiß ist, kann schwarz sein. Und was schwarz ist, kann weiß sein. Wenn ich behaupte, die Tischplatte meines Arbeitstisches sei hart, so ist das in unserer Realität absolut richtig. Wenn ich aber das Wort „hart“ näher betrachte, so verständigen wir uns über diesen Begriff nur deshalb, weil wir eine Vorstellung vom gegenteiligen Zustand der Härte haben: Wir meinen, die Tischplatte sei nicht „weich“.
Im Alltag brauchen wir über solche Zusammenhänge nicht nachzudenken. Anders in der Astrologie. Die polare Bedeutung (Antonymie) eines Symbols macht dieses zu einem ganz wesentlichen Teil aus. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Beschreibe ich die Löwe-Energie und behaupte, der Löwe sei selbstsicher, darf ich nicht außer Acht lassen, dass latent dabei auch die Unsicherheit vorhanden ist. Unsicherheit ist daher die andere Seite der „Löwe-Medaille“.
Versteht man diesen Zusammenhang nicht, so kann man das volle Potenzial eines astrologischen Symbols nicht nutzen. Man wird seine psychologische Tragweite nicht erfassen. Ist es einem Menschen überaus wichtig, selbstsicher zu wirken, so wird er vieles tun, um seine gelegentlichen Unsicherheiten zu überspielen. Vielleicht werden seine unsicheren Anteile sogar gänzlich verdrängt und tabuisiert, bis der Zeitpunkt in seinem Leben kommt, an dem er sich mit der polaren Energie des Löwen auseinandersetzen muss, nämlich mit Saturn, dem alten Herrscher des Wassermanns. Erst wenn der Löwe-geprägte Horoskopeigner seine Schattenseite annimmt und sie nicht mehr als minderwertig betrachtet, kann er zu einem authentischeren Selbstwertgefühl finden. Diesen Prozess wird er als überaus erlösende Einsicht erleben.
Wo aber bleibt hier die von der Wissenschaft verlangte Eindeutigkeit? Seien wir ehrlich: Sie bleibt auf der Strecke. In der Welt der Astrologie kann „plus 3“ zugleich auch „minus 3“ bezeichnen. Der Astrologe ähnelt einem Seiltänzer, der beim Deuten die Balance zwischen den gegensätzlichen Polen halten muss. Findet er sie nicht, stürzt er in die Tiefe, weil seine Deutung die polare Mehrdeutigkeit nicht in der Balance halten konnte. Genau das tut die triviale Astrologie. Sie arbeitet eindimensional. Sie deutet in „gut“ oder „schlecht“. Mit psychologischen Erkenntnissen hat dies dann nichts mehr zu tun.
Assoziationen und intelligente Paradoxien gehören selbstverständlich zum Repertoire des fundiert ausgebildeten Astrologen. Die Astrologie, wie ich sie verstehe, erfüllt eher künstlerische als wissenschaftliche Kriterien. Denn genau diese Kriterien verleihen der Astrologie ihre wertvolle seelische Wirkung.
Symbole treten paarweise in polarer Beziehung auf
Positive Eigenschaften (blaue Grafik links) sind nur durch gegenteilige negative Eigenschaften (rote Grafik rechts) verständlich. So stellt die Qualität kalt das Gegenteil von heiß dar. Heiß und kalt stehen antonym zueinander. Doch sind sie nicht vollständig getrennt: weitere polare Qualitäten wie warm und feucht verbinden sie. so entsteht eine Vernetzung von Eigenschaften, und nicht selten enthalten astrologische Antonyme, tiefer betrachtet, gemeinsame Eigenschaften.
Beispiel: Venus steht nicht nur für die Fähigkeit, passiv zu gefallen. Venus steht auch für das aktive Locken. In dieser Energie fließt dezent etwas Marsisches hinein.
Es ist jedoch wichtig zu verstehen, warum statistische Kategorien im Hinblick auf die Astrologie nicht wirklich anwendbar sind. Wir behandeln jedes Horoskop völlig individuell. Jede Deutung ist wie in der Kunst ein Unikat. Ihr Wahrheitsgehalt ließ sich bisher wissenschaftlich nur begrenzt bewerten. Schließlich kann man auch nicht entscheiden, ob ein Gedicht richtig oder falsch ist. Man weiß nur, ob man es mag oder nicht. Aber über die persönliche Meinung hinaus stellt sich natürlich dennoch die Frage nach der Qualität des Gedichts. Ist es künstlerisch wertvoll, erfreut es Geist und Seele. Es transportiert eine vielschichtige Botschaft, die uns entzückt. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Astrologie.
Wer Eindeutigkeit von der Astrologie erwartet, wird in der Regel und zu Recht enttäuscht. Wer sich jedoch intensiv mit ihr beschäftigt, entdeckt ihre innere Stimmigkeit: Sie vermittelt Lernenden wie auch Profis Einsichten in das menschliche Leben und seine kosmische Gebundenheit. Wir glauben also nicht an die Astrologie, sondern wir erleben ihren Wahrheitsgehalt: Im Horoskop spiegelt sich das Leben des Klienten wider. Und mehr noch: Es gibt Antworten auf existenzielle Fragen.